21 Juni 2008

Charaktere (1): Der Finstere

Der Finstere ist einer, der sein Erleben verdunkelt. Dass morgen wieder die Sonne aufgehen wird, vermag ihn nicht zu erheitern. Er nimmt es widerwillig, höchstens phlegmatisch, zur Kenntnis. "Morgen" ist überhaupt seine Obsession, von der er sich Mühen und Plagen, kleine Widrigkeiten und aufreibende Auseinandersetzungen, Hinternisse und Verzögerungen, Unglücke, Unfälle, Katastrophen, erwartet.

Vom Pessimisten unterscheidet ihn, dass er seine Befürchtungen lieber für sich behält, anstatt sie liebevoll ausgeschmückt seinen optimistischeren Zeitgenossen vorzusetzen. Es würde ihm auch schwerfallen, seine Erwartungen zu konkretisieren und dadurch nachvollziehbar darzustellen. "Konkretisieren" scheut er wie die Katze den heißen Brei.

Dies unterscheidet ihn auch vom Skeptiker, der er gerne sein möchte. Nichts würde ihm mehr behagen, als mit diesem verwechselt zu werden. Doch der wahre Skeptiker bezweifelt nicht nur den unbegründeten Optimismus und plumpen Fortschrittsglauben, sondern auch (und zwar besonders eifrig) das böse Omen und den unbewiesenen Defätismus. Der Finstere dagegen ist abergläubisch: Das Gute zu erwarten, bedeutet ihm, das Unheil herbeizurufen. Und über ungelegte Eier wird er niemals sprechen.

01 Juni 2008

Zweifel [1]: Ein Brief

Auszug aus dem fiktiven Brief des jungen Philipp Lord Chandos an seinen hochverehrten Freund Francis Bacon:


"Mein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen. [...] Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte "Geist", "Seele" oder "Körper" nur auszusprechen. Ich fand es innerlich unmöglich, über die Angelegenheiten des Hofes, die Vorkommnisse im Parlament oder was Sie sonst wollen, ein Urteil herauszubringen. [...] die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze."

"Allmählich aber breitete sich diese Anfechtung aus wie ein um sich fressender Rost. Es wurden mir auch im familiären und hausbackenen Gespräch alle die Urteile, die leichthin und mit schlafwandelnder Sicherheit abgegeben zu werden pflegen, so bedenklich, daß ich aufhören mußte, an solchen Gesprächen irgend teilzunehmen. Mit einem unerklärlichen Zorn, den ich nur mit Mühe notdürftig verbarg, erfüllte es mich, dergleichen zu hören, wie: diese Sache ist für den oder jenen gut oder schlecht ausgegangen; Sheriff N. ist ein böser, Prediger T. ein guter Mensch; Pächter M. ist zu bedauern, seine Söhne sind Verschwender; [...] Dies alles erschien mir so unbeweisbar, so lügenhaft, so löcherig wie nur möglich."

"Mein Geist zwang mich, alle Dinge, die in einem solchen Gespräch vorkamen, in einer unheimlichen Nähe zu sehen: so wie ich einmal in einem Vergrößerungsglas ein Stück von der Haut meines kleinen Fingers gesehen hatte, das einem Blachfeld mit Furchen und Höhlen glich, so ging es mir nun mit den Menschen und ihren Handlungen. Es gelang mir nicht mehr, sie mit dem vereinfachenden Blick der Gewohnheit zu erfassen. Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen."



Quelle: Hugo von Hofmannssthal, "Ein Brief" (1902)

Fälschungen [1]: Elisabeth K.

Professor A. war ein Held. Nach fast zwanzig Jahren Tätigkeit als Lobbyist für die Zigarettenindustrie beruhigte er sein Gewissen als Betreiber von Studien über die Gefährlichkeit des Mobilfunks. Das Ergebnis der Studie an Funkwellen im GSM-Netz: Schädigung des Erbguts, bereits bei einer Belastung weit unterhalb des Grenzwertes. Das Ergebnis der analogen Studie über das modernere UMTS-Netz: Ebenfalls Schädigung des Erbguts.

Es waren dies die ersten Studien unter Tausenden ähnlichen, die eine Schadwirkung der "Handystrahlung" beweisen konnten, und sie entfachten eine entsprechende Euphorie unter den Strahlengläubigen.

Die Studien wurden von Frau Elisabeth K. produziert. Nicht durchgeführt. Die Labortechnikerin erfand die Daten, um die gewünschten Ergebnisse zu erreichen. Der tatsächliche Verlauf der Experimente war ihr gleichgültig.

Ein mißtrauischer Außenstehender, Professor L, konnte die Fälschung aufdecken, weil die Perfektion der Zahlen zu unwahrscheinlich war, um echt sein zu können.

Professor A. ist nun entsetzt und fühlt sich hinters Licht geführt. Dabei hat Frau K. nur seinen Wunsch erfüllt.

Quelle: http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,555365,00.html

31 Mai 2008

Projektionen [1]: Katharina

Die jungfräuliche Königstochter Katharina, später eine der drei weiblichen unter den vierzehn Nothelfern, starb, weil sie die besseren Argumente auf ihrer Seite hatte. In einer öffentlichen Diskussion mit den fünfzig besten kaiserlichen Philosophen konnte sie nicht nur nicht widerlegt werden, sie vermochte auch ihre Diskutanten geschlossen zum Christentum zu bekehren. Kaiser Maxentius schickte seine Philosophen auf den Scheiterhaufen und Katharina unters Rad. Unter himmlischem Eingriff zerbrach das Rad, sie wurde stattdessen enthauptet, und aus ihren Wunden floss Milch statt Blut.

Das ist die Legende.

Die historische Katharina hieß Hypatia, war Heidin, Professorin für platonische Philosophie am Museion von Alexandria, und berühmt für ihre Schönheit, ihren Scharfsinn, ihre Tugend. Im Jahre 415 wurde sie von fanatischen Christen gelyncht.

"Auf dem Wege zur Akademie, an der sie lehrte, lauerte ihr eine Bande Mönche auf. Sie zerrten sie aus ihrem Wagen in eine Kirche und rissen ihr die Kleider vom Leib. Dann kratzten sie ihr mit Austermuscheln das Fleisch von den Knochen und verbrannten, was übrig blieb. All dies geschah auf Befehl des heiligen Kyrillos, des Patriarchen von Alexandria. Mit Hilfe wohlplatzierter Geschenke an die zivilen Behörden erreichten Kyrillos und seine Mönche, daß die offizielle Untersuchung zur Ermittlung der Mörder Hypatias eingestellt wurde."

06 Mai 2008

Vorwort

Es schickt sich, ein Wörterbuch in Begleitung eines Vorwortsin die Freiheit zu entlassen: Der Prolog soll das erwartete Publikum nachsichtig stimmen, phantasievolle Erwartungen erwecken, dem jungen Geschöpf einen Weg durch die Menge des Marktes bahnen.

In früheren Zeiten war es nicht unüblich, einem (möglicherweise authentischen, viel öfter aber fingierten) Brief des Verfassers an einen hochgestellten Gönner (oder zumindest einen väterlichen Freund) den Vortritt zu lassen. 
Man beteuerte seine Dankbarkeit für bereits geleistete oder noch erwartete Wohltaten (damals noch: "Wohlthaten").

Später wurden die Autoren selbstbewußter, und waren ihre eigenen Fürsprecher:

"Dieses Blog wird nicht nur die Zahl der vorhandenen Blogs erhöhen, die zu lesen niemand Zeit findet, sondern will auch die Menge der relevanten Information im Cyberspace vermehren. Vorrangige Themen sollen sein: Philosophie, Psychologie, Rationalismus 
(sowie sein Gegenteil), Skepsis, Sprache/Mathematik, Geschichte."